Gerhard Kaisers Farbexplosionen interpretieren Dante
von J. P. Hodin


Ist es zu weit zurückgegriffen, wenn wir uns in unserer Gegenwart auf Dante beziehen, um das Chaos unserer aufgerütteten Zeit plausibel zu schildern ? Vertiefen wir nicht auch noch das Unbegreifliche der Existenz, wenn wir es mit Mitteln zu gestalten suchen, die an und für sich für viele Zeitgenossen noch immer ein Unverständliches sind?
Es war weise und mutig, daß sich Gerhard Kaiser an ein sehr großes Thema heranwagte, sich auf eine gewaltige poetische Persönlichkeit stützte, die neben Homer, Shakespeare und Goethe schon je als „die vier wahren Dichter der Weltliteratur" gekennzeichnet wurden. In einer Zeit, in der der Massenmensch dominant ist und das Bewußtseinsniveau sinkt, weil es sich über alle auszubreiten sucht, muß das Individuum sich gegen die Menge und ihre Macht behaupten, um be­stehen zu können. Ein Künstler, der an seiner Zeit leidet, ist berufen, sich mit dem ganzen Problem des Menschen auseinanderzusetzen, und was wäre ein besseres Medium, als den Gang zu den Abgründen unserer Existenz, unseres geistigen und moralischen Nihilismus, an der Hand des Dichters der Göttlichen Komödie anzutreten? Und der Künstler wird dabei erkennen, daß das menschliche Dilemma ein zeitloses, ein ewiges ist, daß das Wesen des Menschen durch die Jahrhunderte unverändert bleibt. Ist der Mensch gut oder ist er böse? Er ist bestialischer Natur, ein meditierendes, grausames und berechnendes Tier, ein Dorn im Fleische der naiv Gläubigen. Er ist das ewige Rätsel der Schöpfung, genial durch seine Erfindungsgabe, durch seine kreative Abenteuerlichkeit  und unberechenbar. Der Holocaust von gestern und die Wut ältester Zeiten, was unterscheidet sie im Wesen ?
„In den arianischen Streitigkeiten wurden einmal 3000 Katholiken in Konstantinopel getötet; ein arianischer Bischof in Alexandrien ließ alle Katholiken peitschen und rösten. Von unterdrückten christlichen Sekten wurden die Vandalen nach Afrika, die Mohamedaner nach Ägypten gerufen. Und das ging fort bis in die neueste Zeit: Im 16. Jahrhundert wurden im Zeitraum von 12 Jahren in den Niederlanden allein mehr Menschen um ihres Glaubens willen getötet, als in allen Christenverfolgungen des ganzen römischen Weltreichs in vierhundert Jahren zusammenge­nommen." (Karl Federn, Dante und seine Zeit, Leipzig 1916). Und Dante schildert uns alle, die Sünden und Verbrechen, die Härten, aber auch die ausgleichenden seelischen Mächte seiner eigenen Frührenaissance-Zeit, sodaß wir uns der menschlichen Zwiespältigkeit voll bewußt werden. Unzählige Künstler haben sich durch die Jahrhunderte an die Illustration dieses menschlichen Riesenwerkes gewagt, Gemälde, Skulpturen, Kupferstiche, Zeichnungen, Miniaturen und Aquarelle sind in seinem Gefolge entstanden. Immerwieder wurde ihr schöpferischer Geist angeregt, sich mit diesem Giganten zu messen. Ein Giotto, ein Signorelli, Raffael, Botticelli, Corregio, Agricola, ein Sabatelli, ein Ingres und Delacroix, ein Feuerbach und Blake, ein Gustav Dore, u.v.a. In österreich letzthin Orlik, nun Kaiser. Für ihn ist es ein monumentales Unternehmen, wobei Humanistisch-Ethisches sich zu der neuen visuellen Gestaltung gesellt, es könnte sogar eine Lebensaufgabe für ihn werden, bedrängt wie er scheint durch die Not­wendigkeit, eine Aussage zu machen, die das Gleichgewicht seines eigenen Seelenlebens und der Gegenwart zu erhalten sucht.
Abstrakt expressionistisch? Sei es. Man nenne es, wie man will, aber man greife zurück auf die Annalen der Weltkunst. In Tibet z. B. gibt es Tankas, Gestaltungen des Buddha und der Mandala. In solchen will der Künstler weder mehr noch weniger aussagen, als was er darstellt. Er gibt sich selbst auf in dem Gebilde, und Farben und Formen lassen sich auf der Fläche nieder mit klarer Überzeugungskraft, aber auch mit der Verschwommenheit von Dingen, die wie in einem Traum erscheinen. ... Alle Linien und Farben erfüllen sich in Harmonie, der Künstler ahmt nicht die Natur nach, erfolgt bestimmten Gesetzen und Proportionen, die für ihn maßgebend sind. Seine Absicht ist nicht, eine ideale Schönheit zu finden, sie ist der Ausdruck einer inneren Gewißheit, die Manifestation durch Zeichen und Symbole, die die Natur des Lebens definieren. Das Menschliche ist transzendiert, es wird zum Gleichnis für die Emphase des Künstlers. (Guiseppe Tuni, Tibetan Painted Scrolls, 1949).
Und was spricht Hermann Bahr aus, in seinem Buch „Expressionismus", Jahrhunderte später?
„Der mystagogische Dunst, der uns ein unentbehrlicher Behelf ist, wirkt auf die Illusion hin, nicht auf die Realität oder auf Nachahmung." (München, 1920). Und Gerhard Kaiser seh reibt: „Ich betätige mich bildnerisch, weil ich es erzählerisch nicht tun kann." Die Bildideen werden direkt und spontan umgesetzt, in ausschließlich reinen ungebrochenen Farben. Der Mensch und seine Beziehungen zu anderen Wirklichkeiten ist das zentrale Thema. Formale Festigung und freier Automatis­mus wechseln und ergänzen einander im Hinblick auf ein Ergebnis, das soweit wie möglich auf Vorbilder verzichtet. Kaiser wirkt gefühlsbetont, aber auch fallweise formelhaft. Diese Widersprüchlichkeit ist ein wichtiger Punkt in seinem Werk, nicht in einen Stil zu verfallen.
In seiner bildnerischen Auffassung steht Kaiser Picasso und Klee am nächsten. Picasso wegen seiner kreativen Vielfalt und seiner Grenzenlosigkeit, und Klee durch seine tiefen Einsichten und Erkenntnisse. Kaiser ging so weit, daß er Behausungen und Grabstellen der beiden geschätzten Künstler besucht hat, was seine Inspiration förderte.
Die breit ausgreifenden abstrakten amerikanischen Expressionisten haben auch Spuren in seinem Werk hinterlassen. Etwa ein Hans Hofman mit seinen neuen plastischen Werten und formal-strukturalen Darstellungen der sichtbaren Realität, den Kraftfeldern der Beziehungen von Flächen und Linien, wobei die Farben die Tiefendimensionen auf der Fläche bestimmen. Das negative und das positive Volumen, die Dynamik, die Kräfte der Aktion und Reaktion, der Expansion und der Schrumpfung sind Kaiser kein Geheimnis.
Zu Hofman, Adia Junkers, zu de Kooning, Kline und Stornos gesellt sich heute der Österreicher Kaiser ganz überzeugend und kongenial.

London, im Mai 1987.

A.Schantl L.Kogler J.Rössl M.Rennhofer O.Rychlik Rychlik+Krumpl W.Hilger W.Pauser J.P.Hodin M.Wagner W.Stelzer N.Pernod H.Knack Ch.Krejs F.Steininger

M.Wagner III Carl Aigner Alexandra Schantl II Oswald Oberhuber Günter Oberhollenzer Michaela Seiser Lucas Gehrmann Alexandra Schantl III Gerhard Kaiser I Gerhard Kaiser II