Die Wahrheit des Traumes.


Zu Gerhard Kaisers Auseinandersetzung mit
Dantes Commedia.


Bei einem Besuch in Kaisers Atelier im April 1986 schauten wir uns noch einmal die Bilder des Zyklus „Die 120 Tage von Sodom" an, die soeben von der Personalausstellung der NöArt Galerie im Wiener Künstlerhaus zurückgekommen waren. Die vom Sujet her naheliegende Assoziation zum Inferno der Divina Commedia veran-laßte die Frage, ob er je Dante gelesen habe. Die Frage machte ihn neugierig, nach einer knappen Schilderung war sein Interesse vollends geweckt. Bald saß er ober dem Text der schweren dreibändigen Prachtausgabe mit den Illustrationen Gustave Dores, und schon nach kurzer Lektüre war er spontan entschlossen, seine Eindrücke unmittelbar ins Bild umzusetzen. Voll Begeisterung sprach er von einem Zyklus, der „mindestens 100 Bilder" umfassen werde.
So mancher mag sich fragen, was ein Werk wie die Divina Commedia, die der 1321 in der Verbannung in Ravenna gestorbene Florentiner Dante Alighieri in über 14000 Versen dichtete, uns heute noch zu sagen habe. Daß der Autor es ganz bewußt nicht in lateinischer Sprache, sondern gegen die Usancen der Zeit im Volgare, der Volkssprache, verfaßte, erklärt gewiß die überragende Bedeutung für die Entfaltung der italienischen Schriftsprache und überhaupt die italienische Literatur. Im übrigen mag es für Historiker von Interesse sein, die sich mit dem Mittelalter beschäftigen, allenfalls noch für das aussterbende Bildungsbürgertum, das vielleicht noch Solschenizyns „Der erste Kreis der Hölle" damit assoziiert. Aber kann es als ein Werk gelten, mit dem heute ein Künstler etwas anfangen kann?
Bei der Commedia handelt es sich um eine in das Jubiläumsjahr 1300 verlegte allegorische Vision, gekleidet in eine Wanderung ins Jenseits: Unter der Führung des römischen Dichters Vergil, der im Mittelalter als ein Weissager des Heilandes galt, geht es in 7 Tagen durch die 9 Kreise der Hölle (Inferno) und über die 9 Stufen des Läuterungsberges (Purgatorio) zum irdischen Paradies, von hier mit Beatrice durch die 9 Sphären des Himmels, in dem sich Licht und Bewegung steigern, bis zur Vision Gottes (Paradiso). Im Verlauf dieser Wanderung erfolgt in der Begegnung mit Persönlichkeiten und Gestalten aus der alten Geschichte bis zu den Zeitgenossen unter Einbeziehung der Gestalten der Mythologie die Auseinandersetzung mit den Problemen der menschlichen Bestimmung, aber zugleich auch mit den politischen und religiösen Problemen seiner Zeit. So werden in dichterisch vollendeter, allegorischer Form Antworten auch auf die schwierigsten Fragen gegeben, die die Gelehrten sonst in umfassenden, langatmigen und kaum zugänglichen lateinischen Traktaten behandelten. Zweifellos hat dies für Jahrhunderte zur Popularität der Commedia beigetragen, freilich hat es auch dazu geführt, daß viele Probleme, Bezüge, Anspielungen, Hintergründe usw. heute nur noch mit Hilfe gelehrter Kommentare verstanden werden können, zumal den meisten Lesern genauere Kenntnisse weder aus dem Bereich der Geschichte noch dem der Mythologie zu Gebote stehen. Die Dante-Forschung selbst ist längst eine eigene Wissenschaft geworden.
Daneben ist freilich die „buchstäbliche" Lektüre ohne gelehrte Krücken, der un­mittelbare Zugang auch heute jedem möglich, der bereit ist, sich auf das Abenteuer der dichterisch gestalteten Condition humaine einzulassen. Seit jeher haben sich Künstler mit der Commedia auseinandergesetzt: Sandro Botticelli, Luca Signorelli, zahlreiche deutsche Romantiker, Gustave Dore, Delacroix, Dante Gabriele Rossetti, um nur einige zu nennen, aber auch Franz von Bayros, Amos Nattini und zuletzt Salvadore Dali. Die Künstler verfolgten jeweils sehr unterschiedliche Anliegen, auf die wir hier nicht eingehen wollen, von der rein deskriptiven Illustration bis zu r Gestaltung tiefverstehenden Eindringens. Gerhard Kaiser gehörte vorerst nicht zu den Künstlern, die gewissermaßen „mit Dante lebten" und immer tiefer in seine Welt einzudringen suchten. Ihn interessierten in seiner künstlerischen Auseinandersetzung zunächst weder der Aufbau der drei Jenseitsreiche noch größere Zusammenhänge. Er war auch weit davon entfernt, zu „illustrieren".
Der Reiz seiner Auseinandersetzung mit der Commedia liegt im unmittelbaren Zugriff, in der individuellen Betroffenheit, die dabei zum Ausdruck kommt. Seine Art, spontan und rasch zu arbeiten, erlaubt ihm, eine Bildidee sofort umzusetzen; dabei wird kaum korrigiert.
Zur Entstehung der Bilder ist vielleicht noch anzumerken, daß Kaiser nicht reflektiert oder seine Bilder allmählich innerlich wachsen läßt. Er las auch nicht das ganze Werk oder größere Teile, um sich dann zufrieden an die Arbeit zu machen. Er tastete sich vielmehr im Text streng fortschreitend vor - wobei ihm das Gewicht des schweren Bandes und die großen Drucktypen sehr wichtig waren, Assozia­tionen zu liturgischen Büchern mochten für den ehemaligen Ministranten eine Rolle spielen, und wenn ihn eine Situation, eine Figur, Gefühle oder eine Stimmung „ansprangen", setzte er sie unmittelbar meist in wenigen Strichen um. Erst dann wurde die Lektüre wieder aufgenommen.
Mehr als ein ganzes Jahr lang lebte Kaiser im Banne der Commedia. Schon vom Umfang her gesehen ist das Oeuvre ungemein eindrucksvoll: Der eigentliche, dreiteilige Zyklus umfaßt allein 74 Bilder (Inferno 25, Purgatorio 27, Paradiso 22), daran reiht sich eine laufend wachsende Zahl von weiteren Bildern, in denen Eindrücke - nunmehr losgelöst von der unmittelbaren Lektüre - verarbeitet werden.
In welch eindrucksvoller Weise Kaiser das Inferno, den Bereich des Fleisches und der Sünde, der Laster, Leidenschatten und des Grauens, bewältigte, davon konnte man sich bei der Ausstellung dieses Teilzyklus im Oktober 1986 im Niederöster­reichischen Dokumentationszentrum für moderne Kunst in St. Polten ein Bild machen. Eine besondere Schwierigkeit und zugleich Herausforderung lag gewiß in den völlig anderen Dimensionen des Purgatorio mit seiner milden, von Friede, Eintracht und Hoffnung getragenen Stimmung und schließlich des Paradiso mit seiner glückseligen Steigerung von Licht und Bewegung. Das Inferno lag Kaiser besonders, der Text „strahlte", wie er gelegentlich bemerkte. Bei den Farben domi­nieren Rot, Schwarz, Braun und Blau. Das Purgatorio hebt sich davon farblich markant ab: Es ist nicht nur heller, sondern überhaupt viel stärker differenziert, auffällig namentlich ein zartes Türkis. Bei einem Bild wie der „Stimme des Baumes" vermeint man direkt in den Kaiser'schen Nußbaum in St. Veit an der Triesting zu blicken. Einen völlig unerwarteten Wandel in der Farbigkeit erzwang das Paradiso gegen den fast widerstrebenden Künstler. Auf die Frage, ob ihm die Farben nicht unangenehm oder gar peinlich seien, antwortete er präzisierend mit Schmunzeln: „angenehm peinlich".
Für Kaiser bedeutete die Auseinandersetzung mit der Divina Commedia eine un­gemein fruchtbare Zeit. Im Hinblick auf seine künstlerische Entwicklung hat er seine Arbeit geradezu als „Mal- oder Malgehschule" apostrophiert. Bemerkenswert ist die Phase nach der Beendigung des eigentlichen Zyklus. Es ist ein neuerliches „Sich-wieder-freischwimmen". Das Atmosphärische verliert an Gewicht, die Farbe wird wieder stärker zurückgedrängt, die Reduktion erfolgt noch ausge­prägter. Die Nachwirkungen sind außerordentlich intensiv; vieles drängt nun zur Gestaltung, zur Variation, vieles taucht, lange nach der Lektüre, völlig neu auf. Allmählich gerinnt, verdichtet sich die Auseinandersetzung auch zu einem ganzen Bild. Man darf gespannt sein, welchen Niederschlag dies noch finden wird.
„Kein Maler, kein Künstler kann ein Kunstwerk schaffen, wenn er es nicht vorher erlebt hat", vermerkt Dante in seiner Prosaschrift „II Convivio". In seiner Commedia hat der exilierte Florentiner die Totalität der menschlichen Existenz und Erfahrung zeitlos gültig eingebracht. „... per dar lui esperienza piena", um ihm die uneingeschränkte Erfahrung zu ermöglichen (Inf. 28.48), hat Vergil Dante auf seinem erschütternden Weg geleitet. Diese „esperienza piena" in ihren vielfältigen Ausprägungen hat auch Gerhard Kaiser in ihren Bann geschlagen. Arthur Schopenhauer hat die ungemein eindringliche Beobachtung gemacht, die Größe Dantes bestehe darin, daß er die Wahrheit des Traumes habe. Wenn man sich in Kaisers Bilder eingelebt hat, wird man in ihnen, selbstverständlich gebrochen, nach seinen Vorstellungen gestaltet und übersetzt, gerade dieses Phänomen wiederfinden.

Prof.Dr.Winfried Stelzer

A.Schantl L.Kogler J.Rössl M.Rennhofer O.Rychlik Rychlik+Krumpl W.Hilger W.Pauser J.P.Hodin M.Wagner W.Stelzer N.Pernod H.Knack Ch.Krejs F.Steininger

M.Wagner III Carl Aigner Alexandra Schantl II Oswald Oberhuber Günter Oberhollenzer Michaela Seiser Lucas Gehrmann Alexandra Schantl III Gerhard Kaiser I Gerhard Kaiser II