Gerhard Kaiser - Flaneur zwischen den Bildebenen

Gerhard Kaiser wurde durch Oswald Oberhuber, seinen Professor an der Hochschule für angewandte Kunst, früh mit einem erweiterten Kunstbegriff konfrontiert. Die Fragen nach dem Wesen der Kunst, ihrer Potenzialität und ihrer gesellschaftlichen Wechselwirkung und Relevanz begleiten sein künstlerisches Schaffen daher von Anfang an. Ganz im Sinne von Joseph Beuys, den Kaiser 1979 in der Galerie nächst St. Stephan kennenlernt und der von Oberhuber auch an die Hochschule eingeladen wird, sieht er in der freien Wahl der Materialien und Methoden die oberste Priorität. Es geht ihm allerdings nicht wie in der Konzeption der Sozialen Plastik um ein Formen und Gestalten der Gesellschaft, sondern um ein Formen und Gestalten der Bilder und Objekte, die diese Gesellschaft produziert und reproduziert. Kaiser verarbeitet, manipuliert und transformiert die bildnerischen Zeugnisse unserer Gegenwart und unmittelbaren Vergangenheit und liefert damit nicht nur einen konzeptuellen Beitrag zur zeitgenössischen Kunst, sondern trifft auch eine Aussage über den Zustand unserer Welt.

Wir leben in einer Zeit und „einer Kultur, die vollständig von Bildern beherrscht wird“ und in der die visuellen Realitäten alle anderen überlagern. Diese visuelle Zeitenwende wurde bereits in den 1990er-Jahren als „pictorial turn“ (W.J.T. Mitchell) oder „iconic turn“ (Gottfried Boehm) theoretisiert und hat seither an Dynamik und Ausmaß zugenommen. Die mediale Erfahrung eines permanenten Bilderstroms ist zur unvermeidbaren Norm geworden und hat die ästhetische Erfahrung und die Kunst nachhaltig verändert. Die Methoden und technischen Möglichkeiten der Bildproduktion haben sich seit den 1970er-Jahren, der Zeit in der Kaiser künstlerisch zu arbeiten begonnen hat, natürlich radikal verändert und der Künstler lotet daher folgerichtig das gesamte Spektrum der bildgenerierenden Verfahren der letzten Jahrzehnte in seiner Kunst aus.

Wer sich nun so intensiv mit den Bildern und der Bildproduktion einer Gesellschaft auseinandersetzt, ist nicht nur Künstler, sondern auch Forscher, Sammler, Archäologe und Archivar. Sein geradezu obsessiver Drang zum Archivieren und Aufbewahren bezieht sich nicht nur auf Objekte der Warenwelt und Artefakte aus dem weiten Feld des Drucks, sondern auch auf Bilder, Grafiken und Texte, die er selbst fotografiert, aus dem Internet lädt oder scannt und auf Festplatten speichert. Der Künstler kämpft tagtäglich mit der enormen Bilderflut des Internets und der sozialen Medien und bäumt sich geradezu heroisch gegen diese Übermacht auf, um Relevantes aus dem steten Strom herauszufiltern, das er im Kontext seiner Kunst für bewahrenswert erachtet. Er hat sich so über die Jahre eine Sammlung zugelegt, die in analoger Form auf 600 m2 Fläche in einem alten Firmengebäude in der Nähe von Wiener Neustadt Platz findet und digital mittlerweile sechs Speicherplatten mit je sechs Terabyte füllt. Dieses immense Bildarchiv ist die Basis und zugleich der Ausgangspunkt all seiner Arbeiten.

Die Entscheidung eines Künstlers bzw. einer Künstlerin zu Beginn eines Werks behauptet sich stets in der Unendlichkeit aller möglichen Setzungen. Der erste Pinselstrich sei bereits definitiv, sagte Edouard Vuillard zu Beginn der modernen Malerei. Alle weiteren Pinselstriche beziehen sich auf die bereits gesetzten. Kaiser umgeht dieses Problem des Anfangs, indem er in seinem Archiv flaniert, bis er ein Bild findet, das ihm als Impuls für ein neues Werk dient. Er spricht von einer ständigen Unruhe angesichts der überbordenden Fülle an Bildern, aber zugleich auch von einem ständigen Ansatz zum Arbeiten. Walter Benjamin notierte in seinem Passagen-Werk zum Unterschied von Sammler und Flaneur ganz knapp: „Flaneur optisch, Sammler taktisch.“ Kaiser verkörpert beides: er sammelt strategisch und flaniert ergebnisoffen. Wenn der Künstler in seinem Bildarchiv flaniert, dann handelt es sich um ein vom Zufall bestimmtes Gehen, das mit der Topografie vertraut ist und möglicherweise auch bewusst in eine Richtung tendiert, aber trotz allem richtungs- und ziellos ist und die Zeit keiner Zweckrationalität unterwirft. „Den Flanierenden leitet die Straße in eine entschwundene Zeit“, schreibt Benjamin, und Kaiser entführt uns mit seinen Werken in eine Vergangenheit der Bildproduktion, die dennoch beredt über die Gegenwart spricht.

Der Künstler hat eine Lehre als Schriftsetzer und Lithograf absolviert und viele seiner Arbeiten beziehen sich daher auf den Kontext des Drucks und der Vervielfältigung von Information. Nicht nur ist die Farbe Schwarz die Basisfarbe all seiner Arbeiten, er verwendet auch regelmäßig Formen und Verfahren, die mit dem Walzen und Rotieren zu tun haben. Hat er in seinem Archiv ein Bild gefunden, das ihn zu einer neuen Arbeit drängt, dann wird dieses zuerst am Computer bearbeitet und verfremdet. Das so transformierte Ausgangsbild wird dann auf einen Bildträger gedruckt - das können klassische Leinwände sein, aber auch Acrylgläser, Kunststofffolien oder Möbelstücke. Diese Bild-Grund-Konstellation ist dann Ausgangspunkt für weitere Bearbeitungen, wobei sich die Arbeitsprozesse ineinander verzahnen, da alle Bilder miteinander zusammenhängen. Die auf den bedruckten Leinwänden mit Hand aufgebrachte Farbe bezeichnet er nicht als Malerei, sondern als eine „streichende Intervention“. Der Moment der Malerei kommt bei ihm laut eigener Aussage nicht vor. Der Künstler zitiert Joseph Beuys: „Der Fehler fängt schon an, wenn sich einer anschickt, Keilrahmen und Leinwand zu kaufen.“

Kaiser produziert daher auch keine klassischen Gemälde, sondern Montagen, die Bild- und Textfragmente, ineinandergreifende oder gegeneinanderwirkende Motive, Fundstücke unserer Gesellschaft, auf einem Bildträger versammeln und durch ihre überraschenden Nachbarschaften und ungewohnten Zusammenhänge neue Bedeutungsmöglichkeiten evozieren. Dies betrifft auch seine plastischen Arbeiten. Der Künstler sammelt alte Reprofolien und Gummitücher, die im Offsetdruck dieselbe Funktion hatten wie früher der Lithostein. Auf den Reprofolien hat sich durch die Zeit viel Information komprimiert, die sich durch das regelmäßige Auswischen nach dem Druck jedoch nur fragmentarisch erhalten hat und daher der klaren Lesbarkeit entzieht. Der Künstler transformiert diese Folien und teilweise auch neu bedruckte durch Schichtungen und Stapelungen zu skulpturalen Objekten, die er mit PU-Schaum stabilisiert und Gelatine und Epoxyharz konserviert. So wie sich die Ausgangsbilder und deren Information durch die Schichtungen gegenseitig auslöschen, gehen in unserer hypertrophen Gegenwart Sinn und Bedeutung des Bildes durch die permanente digitale Überlagerung, das beständige Wischen auf den Displays, verloren. Nicht umsonst sieht Kaiser seine „Lebenswelt daher zwischen den Bildebenen“, dort wo Substanz und Gehalt des Bildes noch erkennbar und manifest sind. Seine Kunstwerke kann man daher als Streifbilder verstehen, die während des Flanierens zwischen den Bildebenen und durch die Reibung mit der Welt entstehen. Die Bilder sind daher immer an seiner Seite.

Roman Grabner, 2025

W.J.T. Mitchell, Der Pictorial Turn. In: Christian Kravagna (Hg.), Privileg Blick. Kritik der visuellen Kultur. Berlin 1997, S. 15-40, 18.

Sibylle Omlin, Malerei: Erinnerungen, Augenblicke. In: Sibylle Omlin / Beat Wismer (Hg.), Das Gedächtnis der Malerei. Ein Lesebuch zur Malerei im 20. Jahrhundert. S. 412-415.

In einem Telefonat mit dem Autor im Oktober 2025.

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. [H 2,5], S. 274.

Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Aufzeichnungen und Materialien. [M 1,2], S. 524.

In einem Telefonat mit dem Autor im Oktober 2025.

A.Schantl L.Kogler J.Rössl M.Rennhofer O.Rychlik Rychlik+Krumpl W.Hilger W.Pauser J.P.Hodin M.Wagner W.Stelzer N.Pernod H.Knack Ch.Krejs F.Steininger

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